Jan Rickermann: Krise der Kritik und endloses Ende des Kapitals

Datum: 
Mittwoch, 28. Mai 2025 - 19:00 - 21:00
Ort: 
objekt klein a
Veranstaltet von: 
Referat Politische Bildung

Dass die Menschen einmal fähig sein würden, zum Subjekt ihrer Geschichte zu werden, die „Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzen“, war für die Marx’sche Kritik keine abstrakt utopische Vorstellung, sie musste nur die Welt „aus dem Traum über sich selbst“ aufwecken. Marx konnte unter der Annahme eines – wenn auch letztlich herbeisynthetisierten – kämpfenden Proletariats die bestehenden Verhältnisse als Vernunft in falscher Gestalt erkennen. Die erst mit dem Kapital ermöglichten Potentiale galt es zu verwirklichen, den Reichtum von seiner bornierten Form zu befreien. Die Utopie erschien jedoch nur kurzzeitig im Horizont der Kritik als reale Möglichkeit. Bereits im Marxismus nach Marx zerfiel die Einheit von Revolutionstheorie und Gesellschaftskritik in disparate Teile. Die Verwirklichung der Utopie wurde dogmatisch den Gesetzen der Geschichte überantwortet oder als geschichtsphilosophischer Ballast verworfen. Die Marx’sche Kritik wurde insofern vom weiteren Verlauf der Geschichte abgedichtet.
Das Scheitern aller historischen Versuche einer vernünftigen Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Kulmination der ökonomischen und politischen Entwicklung spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht hin zur Befreiung, sondern zur totalen Barbarei, zur „verkehrten Utopie“ (Rotermundt) des Nationalsozialismus, die nahezu völlige Abschließung der spätkapitalistischen Verhältnisse gegen die Möglichkeit ihrer Transzendierung: Dass von all dem die Wahrheit der Marx’schen Kritik tangiert sein könnte, wird nicht nur bezweifelt, sondern komplett verdrängt. Ist damit für den Marxismus die Gesellschaft, „in der weder Vernunft noch Richtiges objektiv mehr existieren“ (Pohrt), weiterhin die alte, wird die nutzlose Welt in der postmodernen Theoriebildung zur Bedingung ihrer (immanenten) Kritik der Gegenwart. Das Ende der Utopie wird damit zur eigentlichen Befreiung.