Einführungsveranstaltung: Geschichte ohne Subjekt, Subjekt ohne Geschichte

Datum: 
Mittwoch, 16. April 2025 - 19:00 - 21:00
Ort: 
AZ Conni
Veranstaltet von: 
Referat Politische Bildung

Seit Anbeginn der Moderne erkannte der Mensch sich selbst als das Subjekt der Geschichte: er sei es, der seine Geschichte macht und diese daher auch anders machen könnte. Diese Erkenntnis ermöglichte es ihm, die einst „von Gott auserwählten“ Herrscher zu stürzen und den ewigen Kreislauf der Geschichte zu durchbrechen – von nun an soll sie seine eigene sein. Geschichte ist keine bloße Kette von Handlungen, nicht völlig unbestimmt. Vielmehr setzt sie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen logischen Zusammenhang. Dafür ist die Geschichtsbetrachtung allerdings angewiesen auf ein Telos, eine Idee der Zukunft, denn erst durch diese erscheint die Geschichte als Prozess und die Gegenwart nicht als dessen abgeschlossenes Ergebnis. Die Gegenwart kann so mit der Vergangenheit in einen Zusammenhang gesetzt werden, welcher die Möglichkeiten zur Veränderung in ihr aufzeigt. Diese notwendige Vorstellung der Zukunft war lange Zeit durch die liberale Geschichtsphilosophie des Fortschritts besetzt. Heute erscheinen uns Geschichtsvorstellungen, die an die Idee des Fortschritts anschließen, kaum durch den Menschen bestimmt: sei es Hegels Weltgeist, der sich hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt oder Marx' Hoffnung, dass die Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen soweit in Widerspruch geraten, dass eine kommunistische Revolution unumgänglich werde. Der wahre Kern dieser Vorstellungen ist allerdings, dass sich die kapitalistische Produktionsweise in der Tat hinter dem Rücken der Menschen und durch ihre Handlungen bewusstlos durchsetzt. Der Mensch ist daher nur der Möglichkeit nach Subjekt seiner Geschichte – real bestimmt er sie noch nicht.
Die daran anschließende Kritik der Geschichtsphilosophie, die der Geschichte keinen äußeren Sinn unterschieben will, kann damit die Geschichte gar nicht mehr begreifen. Der Zusammenhang der Geschichte zerfällt in eine Unmenge historischer „Fakten“ (die als solche verdinglicht, d.h. aus ihrem Konstitutionszusammenhang abstrahiert sind), in unzählbare Geschichten. Ganz affirmativ wird auch von Linken postuliert, die Geschichte sei so unbegreifbar wie die Gesellschaft: das Ende der „großen Erzählungen“ sei gekommen. Der Wahrheitskern dieser Ideologie ist, dass sämtliche Geschichtsphilosophien historisch blamiert sind. Von einer List der Vernunft, einem göttlichen Heilsplan oder einer mit Notwendigkeit bevorstehenden kommunistischen Weltrevolution lässt sich angesichts Auschwitz nicht mehr sprechen. Die Geschichte verläuft offenkundig nicht wie eine Lokomotive auf Schienen, deren Zielbahnhof das Land Ou Tópos ist.
Und doch nötigt das Begreifen der Geschichte dazu, ihr einen immanenten Sinn, das Zusteuern auf ein Telos unterzuschieben. Ähnliches gilt auch für das Begreifen der gegenwärtigen Verhältnisse, welches einzig aus einer antizipierten Zukunft möglich ist. Die Marxsche Kritik steht und fällt mit der Möglichkeit des Kommunismus als der vernünftig eingerichteten Gesellschaft. Nur von dieser aus stellt sich die kapitalistische Produktionsweise als unvernünftig dar. Fällt aber dieses Marxsche Wahrheitskriterium – die Möglichkeit der verwirklichten Vernunft – bleibt der Kritikerin der bestehenden Verhältnisse nichts als eine bloße Subjektivität: die Meinung.
Dass das Begreifen und damit auch das Kritisieren der Gegenwart nur aus einer antizipierten Zukunft möglich ist, wird allerdings zum Problem in Zeiten, in denen die Zukunft selbst immer undenkbarer erscheint. Einigen scheint die Geschichte stets im Jetzt zu enden, andere können die Zukunft nicht anders denken denn als Apokalypse oder Wiederkehr der Vergangenheit. Für letztere ist Friedrich Merz nichts weniger als ein zweiter Paul von Hindenburg. Begreiflich, dass sich die Linke angesichts dessen nach der guten alten Vergangenheit sehnt, in der es die Geschichte und die Zukunft noch gab und in der man davon ausgehen konnte, im Proletariat das wirkliche Subjekt der Geschichte gefunden zu haben.
Ist der Mensch also dazu verdammt, auf ewig Spielball der Geschichte, statt ihr Subjekt zu sein? Eine niemals endende menschliche Vorgeschichte? Oder endet der Kapitalismus gar mit Notwendigkeit an seiner inneren oder äußeren Widersprüchlichkeit, dem tendenziellen Fall der Profitrate oder dem Untergraben der Springquellen alles Reichtums? Und was würde naturwüchsig, also ohne bewusste Tat auf ihn folgen – die Barbarei? Dies verwiese abermals auf die Notwendigkeit der Revolution, die aber ihrerseits so undenkbar erscheint wie das Land Ou Tópos.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll die diesjährige Ringvorlesung das Problem der Notwendigkeit von geschichtlichem Denken für Gesellschaftskritik beleuchten. Ausgehend von der Frage nach dem Wesen von geschichtlichem Denken und Geschichtsphilosophie soll der Zusammenhang von Geschichte und Gesellschaftskritik behandelt werden. Abschließend soll das Problem der Geschichte mit der andauernden Krise der Linken in Verbindung gesetzt werden.

 

Die Einführungsveranstaltung wird sich der Frage widmen, wieso wir das Thema grade jetzt behandeln, wie die Reihe aufgebaut ist und wie ihr an eure Scheine kommt.  Anschließend freuen wir uns auf Fragen, Anmerkungen, Diskussion und Kaltgetränke.