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Referat Politische Bildung
Anstehende Veranstaltungen
Ringvorlesung: Geschichte ohne Subjekt, Subjekt ohne Geschichte
Interventionen zur Geschichtslosigkeit
Ort: objekt klein a, Meschwitzstraße 9, 01099 Dresden
Zeit: 16. April bis 17. Juli 2025, (fast) immer Donnerstags 19 Uhr
Einführungsveranstaltung: 16. April um 19 Uhr im AZ Conni
Seit Anbeginn der Moderne erkannte der Mensch sich selbst als das Subjekt der Geschichte: er sei es, der seine Geschichte macht und diese daher auch anders machen könnte. Diese Erkenntnis ermöglichte es ihm, die einst „von Gott auserwählten“ Herrscher zu stürzen und den ewigen Kreislauf der Geschichte zu durchbrechen – von nun an soll sie seine eigene sein. Geschichte ist keine bloße Kette von Handlungen, nicht völlig unbestimmt. Vielmehr setzt sie die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen logischen Zusammenhang. Dafür ist die Geschichtsbetrachtung allerdings angewiesen auf ein Telos, eine Idee der Zukunft, denn erst durch diese erscheint die Geschichte als Prozess und die Gegenwart nicht als dessen abgeschlossenes Ergebnis. Die Gegenwart kann so mit der Vergangenheit in einen Zusammenhang gesetzt werden, welcher die Möglichkeiten zur Veränderung in ihr aufzeigt. Diese notwendige Vorstellung der Zukunft war lange Zeit durch die liberale Geschichtsphilosophie des Fortschritts besetzt. Heute erscheinen uns Geschichtsvorstellungen, die an die Idee des Fortschritts anschließen, kaum durch den Menschen bestimmt: sei es Hegels Weltgeist, der sich hinter dem Rücken der Menschen durchsetzt oder Marx' Hoffnung, dass die Produktivkräfte mit den Produktionsverhältnissen soweit in Widerspruch geraten, dass eine kommunistische Revolution unumgänglich werde. Der wahre Kern dieser Vorstellungen ist allerdings, dass sich die kapitalistische Produktionsweise in der Tat hinter dem Rücken der Menschen und durch ihre Handlungen bewusstlos durchsetzt. Der Mensch ist daher nur der Möglichkeit nach Subjekt seiner Geschichte – real bestimmt er sie noch nicht.
Die daran anschließende Kritik der Geschichtsphilosophie, die der Geschichte keinen äußeren Sinn unterschieben will, kann damit die Geschichte gar nicht mehr begreifen. Der Zusammenhang der Geschichte zerfällt in eine Unmenge historischer „Fakten“ (die als solche verdinglicht, d.h. aus ihrem Konstitutionszusammenhang abstrahiert sind), in unzählbare Geschichten. Ganz affirmativ wird auch von Linken postuliert, die Geschichte sei so unbegreifbar wie die Gesellschaft: das Ende der „großen Erzählungen“ sei gekommen. Der Wahrheitskern dieser Ideologie ist, dass sämtliche Geschichtsphilosophien historisch blamiert sind. Von einer List der Vernunft, einem göttlichen Heilsplan oder einer mit Notwendigkeit bevorstehenden kommunistischen Weltrevolution lässt sich angesichts Auschwitz nicht mehr sprechen. Die Geschichte verläuft offenkundig nicht wie eine Lokomotive auf Schienen, deren Zielbahnhof das Land Ou Tópos ist.
Und doch nötigt das Begreifen der Geschichte dazu, ihr einen immanenten Sinn, das Zusteuern auf ein Telos unterzuschieben. Ähnliches gilt auch für das Begreifen der gegenwärtigen Verhältnisse, welches einzig aus einer antizipierten Zukunft möglich ist. Die Marxsche Kritik steht und fällt mit der Möglichkeit des Kommunismus als der vernünftig eingerichteten Gesellschaft. Nur von dieser aus stellt sich die kapitalistische Produktionsweise als unvernünftig dar. Fällt aber dieses Marxsche Wahrheitskriterium – die Möglichkeit der verwirklichten Vernunft – bleibt der Kritikerin der bestehenden Verhältnisse nichts als eine bloße Subjektivität: die Meinung.
Dass das Begreifen und damit auch das Kritisieren der Gegenwart nur aus einer antizipierten Zukunft möglich ist, wird allerdings zum Problem in Zeiten, in denen die Zukunft selbst immer undenkbarer erscheint. Einigen scheint die Geschichte stets im Jetzt zu enden, andere können die Zukunft nicht anders denken denn als Apokalypse oder Wiederkehr der Vergangenheit. Für letztere ist Friedrich Merz nichts weniger als ein zweiter Paul von Hindenburg. Begreiflich, dass sich die Linke angesichts dessen nach der guten alten Vergangenheit sehnt, in der es die Geschichte und die Zukunft noch gab und in der man davon ausgehen konnte, im Proletariat das wirkliche Subjekt der Geschichte gefunden zu haben.
Ist der Mensch also dazu verdammt, auf ewig Spielball der Geschichte, statt ihr Subjekt zu sein? Eine niemals endende menschliche Vorgeschichte? Oder endet der Kapitalismus gar mit Notwendigkeit an seiner inneren oder äußeren Widersprüchlichkeit, dem tendenziellen Fall der Profitrate oder dem Untergraben der Springquellen alles Reichtums? Und was würde naturwüchsig, also ohne bewusste Tat auf ihn folgen – die Barbarei? Dies verwiese abermals auf die Notwendigkeit der Revolution, die aber ihrerseits so undenkbar erscheint wie das Land Ou Tópos.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll die diesjährige Ringvorlesung das Problem der Notwendigkeit von geschichtlichem Denken für Gesellschaftskritik beleuchten. Ausgehend von der Frage nach dem Wesen von geschichtlichem Denken und Geschichtsphilosophie soll der Zusammenhang von Geschichte und Gesellschaftskritik behandelt werden. Abschließend soll das Problem der Geschichte mit der andauernden Krise der Linken in Verbindung gesetzt werden.
Eine Veranstaltungsreihe mit Sabine Hollewedde, Jan Völker, Ilse Bindseil, Jan Rickermann, Peggy H. Breitenstein, Robert Zwarg, Norbert Trenkle, Stephan Grigat und Alexander Neupert-Doppler
1. Sabine Hollewedde: Zur Notwendigkeit von Geschichtsphilosophie für Gesellschaftskritik
Donnerstag, 24. April, 19 Uhr im objekt klein a
»Nur wenn es anders hätte werden können; wenn die Totalität […] im Anspruch ihrer Absolutheit gebrochen wird, wahrt sich das kritische gesellschaftliche Bewußtsein die Freiheit des Gedankens, einmal könne es anders sein.«
(Adorno, Negative Dialektik)
Das Nachdenken über Gesellschaft ist ohne Reflexion auf die Geschichte nicht möglich, da die gesellschaftlichen Verhältnisse wie die Individuen, die in diesen sich bilden, in der Geschichte stehen. Mit der Aufklärung und dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft wurde Geschichte als Fortschrittsgeschichte gedacht. Subjekt der Geschichte waren allerdings nicht die einzelnen, empirischen Subjekte. Kant formulierte eine ›Naturabsicht‹, welche sich durch die Antagonismen der Menschen hindurch durchsetze. Eine solche ›Naturabsicht‹ steht jedoch im Widerspruch zur Kant’schen Moralphilosophie, wonach allein die vernunftbegabten Subjekte Zwecke setzen und verfolgen können. Dieser Widerspruch – ein theoretisches Problem, das seinen Grund in der Sache hat – scheint mit Hegels Figur des Weltgeistes getilgt zu sein. Nach Hegel ist Geschichte ›Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‹. Die Hegel’sche Konstruktion des Weltgeistes, der notwendig voranschreite, dabei über die Opfer hinwegfegend, ist nicht zu halten. Solcherart Kritik daran, die Geschichte in bloße Fakten auflösen will und sagt, so etwas wie der Hegel’sche Weltgeist sei ein bloßes Hirngespinst, greift allerdings zu kurz und kann die Einheit der Geschichte nicht begreifen. Diese Einheit ist mit Adorno nicht ein bloß noch zu affirmierender Geist, sondern sie ist gestiftete durch Naturbeherrschung und die Herrschaft über Menschen.
Es soll daher mit Benjamin und Adorno gezeigt werden, warum ein kritischer Begriff von Geschichte auch an metaphysischen Begriffen festhalten muss, will Theorie nicht in die Affirmation der Herrschaft einstimmen: Benjamin formulierte auf die Frage, »in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt«, die Antwort: »unweigerlich in den Sieger«. (Über den Begriff der Geschichte) Eine empiristische, sich ›neutral‹ über den politischen Kämpfen wähnende Geschichtsschreibung ist Ideologie.
Die zentrale These des Vortrages wird sein, dass der Hegel’sche Begriff von Geschichte nicht zu halten ist und dass gleichwohl geschichtsphilosophische Überlegungen notwendig sind, um eine Kritik an der sich perpetuierenden Geschichte von Naturbeherrschung, »fortschreitend in die Herrschaft über Menschen und schließlich über inwendige Natur« (Adorno, Negative Dialektik), formulieren zu können. Das soll anhand einer Darlegung der Geschichtsbegriffe von insbesondere Kant, Hegel, Benjamin und Adorno geschehen.
»Dem historischen Materialisten fällt die Idee des menschenwürdigen Daseins, an der allein die politische Praxis sich zu orientieren vermöchte, weder aus dem leeren Himmel zu, noch entspringt sie ihm aus der Schau eines vermeintlich unzerstörbaren Wesens der Menschen, sie entwächst vielmehr der Geschichte als deren Anderes, vor dem diese zu einer einzigen Katastrophe wird.« (Bulthaup, Parusie)
2. Jan Völker: Die Enteignung der Zeit
Donnerstag, 8. Mai, 19 Uhr im objekt klein a
Die Länge eines Tages auf dem Mars ist knappe 40 Minuten länger als auf der Erde, ein Jahr fast doppelt so lang wie das Jahr auf der Erde. Der Mars bietet ausgezeichnete Bedingungen für das Kapital, um die Abschöpfung des Mehrwertes aus dem einzelnen Arbeitstag zu erhöhen. Und auch wenn noch keine Arbeitskolonien auf dem Mars gegründet sind, so ist dennoch die maximale Ausdehnung der Gegenwart, die sich in der Expansion in das Weltall abzeichnet, bereits auf der Erde abzulesen: Reine Gegenwart, ein Regime der reinen Unmittelbarkeit, wie es Anna Kornbluh jüngst konstatiert hat, gibt die Zeitstruktur des Spätkapitalismus ab.
Dem entspricht die Ausrichtung der Ökonomie auf die Zirkulation von allem und jedem, eine Zirkulation, die Produktivität simuliert. Gegen die erweiterte Zirkulation in der reinen Gegenwart ist nicht aber für Entschleunigung, und noch weniger für Beschleunigung einzutreten, sondern für das Denken der Zeit überhaupt. Dieses Denken der Zeit muss das Denken des Ereignisses als “Enteignis” (Heidegger) aufnehmen, als eine Enteignung von jeglicher Verstrickung der Zeit mit dem Besitz. “Jetztzeit” (Benjamin) beginnt als Stillstellung der Zeit und öffnet sich auf eine Vergangenheit und eine Zukunft, indem sie eine andere Gegenwart denkt: Die geteilte Zeit des kollektiven Ereignisses.
3. Ilse Bindseil: Neoliberalismus als Wahrheitselixier und die Lehren der Geschichte
Donnerstag, 15. Mai, 19 Uhr im objekt klein a
Zur Einstimmung: Die Geschichte hält keine Lehren bereit. Nur indem ich darauf verzichte, von ihr bedient zu werden, kann ich von ihr lernen. Aus der Geschichte lernen, wie die Formel lautet, heißt nicht, die Fehler, die einmal gemacht wurden, beim nächsten Mal vermeiden. Es heißt vielmehr, sich als Bestandteil der Geschichte zu begreifen. Also: Nicht um Reflexion eines geschichtlichen Zusammenhangs geht es mir, sondern um Selbstreflexion. Den Vorbehalt aufzugeben, der einen Spielraum suggeriert, den es so gar nicht gibt, den scheinhaften Zwischenraum zwischen mir und der Geschichte zu zertrümmern, in dem sich Besserwisserei, Schuldlosigkeit oder eine unverbrüchliche Hoffnung auf Fortschritt eingenistet haben, darauf kommt es mir an. Aufgeregt und angeregt durch die Erfahrung von Ohnmacht und Auflösung, die der Neoliberalismus dem aufgeklärten Subjekt zumutet, möchte ich zeigen, dass das Subjekt nur in der Abspaltung existiert, in den Illusionen, die es sich über seine Rolle als geschichtliches Subjekt und Denker der Geschichte macht. Hat mein Vertrauen in die prominente Rolle des Subjekts sich verflüchtigt, kann ich mich für den Verlust gleich doppelt entschädigen: indem ich in meinem geistigen Vermögen den „allgemeinen Intellekt“ erkenne, auf den Marx verweist, und indem ich mich als Teil der faktischen Geschichte akzeptiere. Habe ich, den einen Zusammenhang zu realisieren, kräftig geübt, kann ich mit Gewinn vom anderen erzählen.
4. Jan Rickermann: Krise der Kritik und endloses Ende des Kapitals
Mittwoch, 28. Mai, 19 Uhr im objekt klein a
Dass die Menschen einmal fähig sein würden, zum Subjekt ihrer Geschichte zu werden, die „Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzen“, war für die Marx’sche Kritik keine abstrakt utopische Vorstellung, sie musste nur die Welt „aus dem Traum über sich selbst“ aufwecken. Marx konnte unter der Annahme eines – wenn auch letztlich herbeisynthetisierten – kämpfenden Proletariats die bestehenden Verhältnisse als Vernunft in falscher Gestalt erkennen. Die erst mit dem Kapital ermöglichten Potentiale galt es zu verwirklichen, den Reichtum von seiner bornierten Form zu befreien. Die Utopie erschien jedoch nur kurzzeitig im Horizont der Kritik als reale Möglichkeit. Bereits im Marxismus nach Marx zerfiel die Einheit von Revolutionstheorie und Gesellschaftskritik in disparate Teile. Die Verwirklichung der Utopie wurde dogmatisch den Gesetzen der Geschichte überantwortet oder als geschichtsphilosophischer Ballast verworfen. Die Marx’sche Kritik wurde insofern vom weiteren Verlauf der Geschichte abgedichtet.
Das Scheitern aller historischen Versuche einer vernünftigen Aufhebung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die Kulmination der ökonomischen und politischen Entwicklung spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht hin zur Befreiung, sondern zur totalen Barbarei, zur „verkehrten Utopie“ (Rotermundt) des Nationalsozialismus, die nahezu völlige Abschließung der spätkapitalistischen Verhältnisse gegen die Möglichkeit ihrer Transzendierung: Dass von all dem die Wahrheit der Marx’schen Kritik tangiert sein könnte, wird nicht nur bezweifelt, sondern komplett verdrängt. Ist damit für den Marxismus die Gesellschaft, „in der weder Vernunft noch Richtiges objektiv mehr existieren“ (Pohrt), weiterhin die alte, wird die nutzlose Welt in der postmodernen Theoriebildung zur Bedingung ihrer (immanenten) Kritik der Gegenwart. Das Ende der Utopie wird damit zur eigentlichen Befreiung.
5. Peggy H. Breitenstein: Wider den Bann: Zur Dialektik der Naturgeschichte bei Marx und Adorno
Donnerstag, 5. Juni, 19 Uhr im objekt klein a
Adornos zweites Modell aus der Negativen Dialektik, “Weltgeist und Naturgeschichte”, enthält die zugleich komprimierteste und anspruchsvollste Darlegung seines Geschichtsbegriffs. Zugleich schließt er hier – deutlicher als sonst in publizierten Schriften – an Marx an, habe dieser doch gegen Hegel erkannt: "Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Naturgeschichte [...] und zwar streng im Zusammenhang mit dem über die Köpfe der Subjekte sich realisierenden Allgemeinen“ (ND, S. 347). Wesentlich ist allerdings die negativ-dialektische bzw. kritische Stoßrichtung der Rede von „Naturgeschichte“ resp. “Naturgesetzlichkeit”: „Die Naturgesetzlichkeit der Gesellschaft ist Ideologie, soweit sie als unveränderliche Naturgegebenheit hypostasiert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der bewußtlosen Gesellschaft, wie es das Kapitel von der Analyse der Warenform bis zur Zusammenbruchstheorie in einer Phänomenologie des Widergeistes verfolgt.“ (ND, S. 347)
Das so skizzierte kritische Konzept der Naturgeschichte steht im Zentrum dieses Vortrags. Gezeigt und gemeinsam diskutiert werden soll dabei, wie sich in ihm Analyse und Kritik von Gesellschaft und Geschichte verbinden und welche Alternativen Marx und Adorno entwickeln zur Aufhebung obsoleter Grundannahmen der klassischen Gesichtsphilosophie (z.B. Tendenz statt Telos, reale Möglichkeit statt Utopie, Widerstand gegen Regression statt Fortschritt).
6. Peggy H. Breitenstein: Primat der Politik! Zu Benjamins “Reflexionen über den Begriff der Geschichte”
Donnerstag, 19. Juni, 19 Uhr im objekt klein a
In einem frühen Entwurf zum Fragment gebliebenen “Passagenwerk” postuliert Benjamin programmatisch einen „Primat [der Politik] über die Geschichte“ (GS V/2, 1057). Damit redet er allerdings keiner Instrumentalisierung der Geschichte im Namen einer politischen Ideologie das Wort, sondern kündigt eine gänzlich neue Art der Geschichtsbetrachtung und Darstellung an. Wie diese aussehen kann, zeigt Benjamin am konzentriertesten in seinen Reflexionen „Über den Begriff der Geschichte“, die zugleich und zurecht als sein Vermächtnis gelten.
Diese Reflexionen, die darin entwickelten Ideen und Bilder (z.B. des Eingedenkens, der Revolution als Griff zur Notbremse, der Geschichte als mit Jetztzeit aufgeladener Konstruktion) stehen im Zentrum des Vortrags. Dargelegt und gemeinsam diskutiert werden soll dabei auch, welche Geschichtsvorstellungen Benjamin zufolge aufgrund ihrer Komplizität mit Herrschaft und Leiden unannehmbar sind (Fortschrittstheorien, Historismus), wie hingegen eine dialektisch-kritische Geschichtsschreibung aussehen kann, die sowohl „der jeweiligen konkret-geschichtlichen Situation ihres Gegenstandes“ als auch „der konkret-geschichtlichen Situation des Interesses für ihren Gegenstand gerecht“ (GS V/1, 495) zu werden versucht.
7. Robert Zwarg: Denken in Ansprachen oder Immer diese Widersprüche: Ein Rückblick auf die Osttour der Kampagne „Etwas Besseres als die Nation“
Donnerstag, 26. Juni, 19 Uhr im soderso
Im Juni 1993 reiste der Hamburger Wohlfahrtsausschuss, eine linksradikale Initiative aus Autoren, Journalisten, DJs und Musikern, durch ostdeutsche Städte, um dort jenseits subkultureller Nischen den öffentlichen Raum gegen Nazis zu verteidigen und mit lokalen linken Gruppen in Kontakt zu treten. Die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen lagen knapp ein Jahr zurück, die tödlichen Brandanschläge in Mölln einige Monate, die in Solingen nur wenige Wochen. Unter dem Motto „Etwas Besseres als die Nation“ fanden in Rostock, Dresden und Leipzig Vorträge, Diskussionen und Konzerte statt (u.a. mit den Goldenen Zitronen, Blumfeld und Absolute Beginner), man lernte sich kennen, unterhielt sich, aber am Ende hatte man sich offenbar nicht viel zu sagen. Man traf auf Gleichgültigkeit oder Unverständnis und erklärte den Versuch „die Zusammenarbeit zwischen Linksradikalen im Westen und im Osten Deutschlands zu verbessern“ für „gründlich gescheitert.“ Der poplinke Ansatz, durch eine kulturelle Praxis in die breitere Öffentlichkeit hinein zu intervenieren sei hingegen erfolgreich gewesen. Warum das eine scheiterte und das andere gelang, so die These des Vortrages, ist auch heute noch von Belang. Denn bei näherer Betrachtung war die Kampagne zugleich Reaktion auf und Ausdruck von Tendenzen, die bis in die Gegenwart reichen: sie betreffen die Frage, warum der Osten „anders“ und die spezifischen ostdeutschen Bedingungen rechter Ideologie, die Attraktivität des Wörtchens „Identität“, das Ende der Jugend- und Subkulturen sowie die Transformation der Öffentlichkeit. Was die Kampagne von 1993 von der Gegenwart erhellt, ist das Thema des Vortrages; es werden zudem Ausschnitte der Dokumentation „Wohlfahrtsausschuss: Etwas Besseres als die Nation“ gezeigt.
8. Norbert Trenkle: Die Verdichtung der Krise. Warum die kapitalistische Gesellschaft an sich selbst zerbricht
Donnerstag, 3. Juli, 19 Uhr im objekt klein a
Dass die kapitalistische Gesellschaft sich in einer tiefen Krise befindet, ist in den letzten Jahren fast schon zum Gemeinplatz geworden. Vom Klimawandel über den Verfall der Demokratie bis hin zu den Verwerfungen am Weltmarkt – die Zukunft sieht düster aus. Aber hat der Kapitalismus nicht schon immer Krisen hervorgebracht und sie dann jedes Mal wieder überwunden? Was unterscheidet die gegenwärtige Situation von früheren Krisen?
Dieser Vortrag vertritt die These, dass die kapitalistische Produktions- und Lebensweise zunehmend an ihre historischen Grenzen stößt. Er bezieht sich dabei auf die Krisentheorie von Karl Marx, die allerdings wie vieles bei diesem Autor Fragment geblieben ist und deshalb erweitert und aktualisiert werden muss. Grundgedanke ist, dass der Kapitalismus einer historischen Wachstumsdynamik und Steigerungslogik unterliegt, die nicht nur ökonomischer Natur sind, sondern die gesamte Gesellschaft erfasst. Diese Dynamik wird angetrieben von den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Vergesellschaftung, die nicht auflösbar sind, sondern sich nach jeder Krise, die sie hervorbringen, auf höherem Niveau reproduzieren.
Doch der historische Horizont für einen weiteren Aufschub von Krisen wird immer enger. Die Finanzialisierung des Kapitals, die in Reaktion auf die dritte industrielle Revolution stattgefunden hat, wird zunehmend prekär; die Zerstörung der Naturgrundlagen schlägt mittlerweile auch auf die ökonomische Dynamik zurück; und die innergesellschaftlichen und globalen Verteilungskämpfe lassen sich nicht mehr durch Wirtschaftswachstum und Externalisierung von Kosten befrieden. Hinzu kommen die politischen und subjektiven Reaktionen auf die allgemeine Bedrohungslage, die zunehmend regressiven Charakter annehmen.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Entwicklung keine emanzipatorische Logik innewohnt. Auch bricht der Kapitalismus nicht einfach zusammen und verschwindet von der Bildfläche; vielmehr lebt er in verwilderter und brutalisierter Form fort, wenn er nicht durch eine emanzipative Bewegung aufgehoben wird.
9. Stephan Grigat: Der Nationalsozialismus und die Aktualität der negativen Aufhebung des Kapitals
Donnerstag, 10. Juli, 19 Uhr im objekt klein a
Der Nationalsozialismus hat gezeigt, wie Erfolg versprechend die Mobilisierung einer antikapitalistischen Revolte zur Rettung des Kapitals sein kann. Zum Zwecke der Krisenlösung schwang sich der NS zu einer groß angelegten, von Ressentiment und Hass getriebenen Verteidigung des vermeintlich Konkreten und Natürlichen vor dem Abstrakt-Künstlichen in der kapitalistischen Gesellschaft auf. Im Vernichtungsantisemitismus vollzog sich die negative Aufhebung des Kapitals – eine fetischistische Revolte gegen das Kapital auf seiner eigenen Grundlage.
Die Begriffe „Postfaschismus“ und „Postnazismus“ versuchen die Tatsache zu fassen, dass 1945 zwar das Morden geendet hat, aber nicht die viel beschworene „Stunde Null“ stattfand. Die nachfaschistischen und nachnationalsozialistischen Demokratien haben Struktur- und Ideologieelemente des Faschismus und des NS in sich aufgenommen. Insbesondere in globaler Perspektive ist von einer postnazistischen Konstellation zu sprechen. Das sich in der konformistischen Revolte artikulierende regressive Bedürfnis zeigt sich heute unter anderem in jenem ressentimentgetriebenen Antikapitalismus, wie er mit unterschiedlichen Ausprägungen für Teile der linken Globalisierungskritiker und rechte Kulturkämpfer, christliche Moralisten und islamische Faschisten, Nazis und andere Antiimperialisten typisch ist.
Einer der aktuell relevantesten Protagonisten einer negativen Aufhebung ist das Ajatollah- und Revolutionsgarden-Regime im Iran. Die zeitgemäße Kritik der postnazistischen Konstellation äußert sich in der Solidarität mit dem Staat der Shoahüberlebenden und seiner militärischen Selbstverteidigung, die sich heute insbesondere gegen das Regime in Teheran und seine Verbündeten richten muss, die u.a. durch die Nahostpolitik des „Rechtsnachfolgers des Dritten Reiches“ zu einer entscheidenden Bedrohung für Israel geworden sind.
10. Alexander Neupert-Doppler: Reformation – Revolution – Transformation
Dienstag, 15. Juli, 19 Uhr im objekt klein a
Kritische Theorie der Gesellschaft ist keine neutrale Bestandsaufnahme, sondern impliziert immer auch die Veränderung des Bestehenden. Entscheidend ist aber, inwiefern eine solche in einer bestimmten historischen Situation möglich ist. Dies hängt von objektiven wie subjektiven Faktoren ab. Max Horkheimer schrieb 1937: “Es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein verändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden” (1937/2005: 244). Im Rückblick auf die verpasste Gelegenheit und den deutschen Zivilisationsbruch wird er später im Gespräch mit Adorno noch deutlicher: “Aus welchem Interesse heraus schreiben wir, nachdem […] die Revolution unwahrscheinlich geworden ist?” (1956: 41). Objektiv war die krisenhafte Zeit zwischen 1917 und 1937 reif für eine Revolution, das fehlende subjektive Interesse der Menschen stellt aber für Horkheimer und Adorno deren Aktualität für unbestimmte Zeit in Frage.
Wiederum bald 70 Jahre später stellt sich die Frage noch einmal anders: Können wir nach dem Scheitern von Revolutionen, Revolutionsversuchen und Revolten überhaupt noch am Konzept einer revolutionären Perspektive festhalten? Bleibt uns, wenn nicht, nur die Beschränkung auf Reformen? Um sich dieser Frage zu nähern wird im Vortrag die Perspektive ausgeweitet: 1525, vor 500 Jahren, zielten bäuerliche Aufstände auf eine umfassende Reformation des gesellschaftlichen Lebens und verstanden ihre Bestrebungen als Wiederherstellung einer gerechten Institution: einer weltlichen Kirche. Im 18. Jahrhundert ersetzte der Begriff der Revolution den der Reformation: Die gesellschaftliche Umwälzung wurde nun gedacht als eine, in der sich eine aufsteigende Klasse neue Institutionen schafft. Für die revolutionären Bürger der Jahre 1776 und 1789 war dies die Gründung von Parlamenten.
Marx und Horkheimer erwarteten Ähnliches von den revolutionären Arbeiter*innen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Die Gründung einer Commune bzw. einer Räterepublik. Die Kritische Theorie hat seither aufgezeigt, dass die proletarische Revolution, anders als die bürgerliche Revolution, unwahrscheinlich ist: Der Spätkapitalismus ist in der Lage die Lohnabhängigen ideologisch, kulturell und materiell zu integrieren. Horkheimer war sich früh über die Bedingungen bürgerlicher Revolutionen im Klaren: “Damals hatte eine neue Gesellschaft sich bereits im Rahmen der alten entwickelt” (1937: 65), kapitalistische Produktionsmittel und Verkehrsformen waren bereits vor der Revolution vorhanden. Sozialistische Produktionsmittel und Verkehrsformen setzen hingegen die Aneignung und Verwandlung der kapitalistischen Produktivkräfte, oftmals Destruktivkräfte, voraus. In diesem Sinne ist die Kritische Theorie jene, “die zur Transformation des gesellschaftlichen Ganzen treibt” (1937: 47). Also statt Reformation und Revolution – Viva la Transformation?
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